ÖÄK warnt: Versorgungskrise auf dem Land spitzt sich zu

19.11.2019

Die ÖÄK fordert bei Gesundheits- und Medikamentenversorgung in ländlichen Regionen Orientierung am realen Bedarf der Menschen. Der Gebietsschutz für Apotheken müsse abgeschafft werden.

Arzneimittel- und Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen gerät immer mehr unter Druck und wir steuern, wenn hier nichts Wirksames passiert, geradewegs auf eine Versorgungskrise zu", sagte heute Johannes Steinhart, Vizepräsident der ÖÄK und Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte, auf einer Pressekonferenz in Wien. „Die Weichen müssen dringend neu gestellt werden."

Eine zentrale Ursache dieser Entwicklung ist, dass die Gründungen neuer öffentlicher Apotheken in ländlichen Regionen zu einem Zusperren von ärztlichen Hausapotheken führen. Es gibt davon heute um mehr als 100 weniger als noch vor 20 Jahren. Allein in den Jahren 2009 bis 2018 wurden in Österreich 155 öffentliche Apotheken neu eröffnet, jedoch 62 ärztliche Hausapotheken geschlossen (Quelle sämtlicher verwendeter Zahlen: Bundeswettbewerbsbehörde). Das Apothekengesetz schreibt nämlich vor, dass in Gemeinden ärztliche Hausapotheken zusperren müssen, wenn ihr Abstand zur neu gegründeten öffentlichen Apotheke weniger als vier Kilometer beträgt.

„Und hier tritt oft ein fataler Prozess in Kraft", so Steinhart. Viele der auf dem Land neueröffneten Apotheken geraten, nachdem sie ärztliche Hausapotheken verdrängt haben, selbst in wirtschaftliche Bedrängnis und sind vom Zusperren bedroht. Weil es dann in der Gemeinde keine Kassenarzt-Praxis mit Hausapotheke mehr gibt, wandern Ärztinnen und Ärzte häufig ab und es wird es noch schwieriger, einen niederlassungswilligen Nachfolger zu finden. „Wenn aber niemand mehr Medikamente verschreibt, kann sie auch niemand mehr verkaufen – zum Nachteil auch der Apotheke", sagt Steinhart. „Diese Negativspirale dreht sich, in unterschiedlichem Tempo, gegenwärtig in sehr vielen ländlichen Regionen. Das Nachsehen haben die Bewohner, und ganz besonders kranke, immobile und alte Menschen. Hier dürfen Gesundheitspolitik und Gesetzgeber nicht länger tatenlos zusehen."

Dass die Bevölkerung Hausapotheken sehr schätzt, zeigte zuletzt eine vergangene Woche von OGM durchgeführte Befragung von 1.500 Personen, die in der ORF-Sendung konkret vorgestellt wurde. Demnach halten 64 Prozent der Befragten Hausapotheken für sinnvoll und nur 19 Prozent für nicht sinnvoll.

In Österreich gibt es derzeit 1.438 von Apothekern geführte Apotheken und 794 ärztliche Hausapotheken. „In Gemeinden mit bis zu 5.000 Einwohnern wurde und wird die ärztliche und pharmazeutische Versorgung überwiegend durch Allgemeinmediziner mit ärztlicher Hausapotheke wahrgenommen", erklärt Silvester Hutgrabner, Leiter des Referates für Landmedizin und Hausapotheken der ÖÄK. Insgesamt betreiben 21 Prozent der Allgemeinmediziner mit einem Kassenvertrag eine Hausapotheke. In Gemeinden mit bis zu 1.000 Einwohnern sind es 74 Prozent, in Gemeinden mit 1.000 bis 5.000 Einwohnern 44 Prozent. Hutgrabner: „Ärztliche Hausapotheken sind eine kostengünstige, effektive, patientenfreundliche und wohnortnahe Lösung, die enorme ökologische Vorteile hat, weil jedes Jahr Millionen Kilometer auf dem Weg zu einer Apotheke wegfallen."

Apothekengründungen in kleineren Gemeinden verdrängen ärztliche Hausapotheken

Fast jede zweite der neuen öffentlichen Apotheken wurden 2009 bis 2018 in Gemeinden mit 1.000 bis 5.000 Einwohnern eröffnet. Ganz besonders dort kam es durch die Neueröffnungen zu einer Verdrängung bestehender ärztlicher Hausapotheken. Hutgrabner: „Diese Entwicklung verschärft einen negativen Trend: Denn unversorgte Gemeinden liegen sehr oft in ländlichen Regionen. 61 Prozent der Gemeinden ohne Haus- oder öffentliche Apotheke und 66 Prozent der Gemeinden ohne Kassenarzt liegen auf dem Land."

Zwei Trends würden dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung auf dem Land weiter zu verschärfen. Ärztliche Hausapotheken seien nicht nur versorgungsrelevant, sondern bedeuten außerdem für Landärzte einen unentbehrlichen und existenzsichernden Einkommensbestandteil. Gibt es also in einer Gegend keine Hausapotheke mehr, so verringert das die Attraktivität der Niederlassung als Landarzt. Hutgrabner: „In Zeiten des Ärztemangels und ganz besonders des Landarztmangels ist das ein beträchtlicher zusätzlicher Nachteil."

Der zweite Trend, der die Versorgung in ländlichen Regionen verschlechtert, liegt innerhalb der Apotheker-Branche. Nahezu alle wirtschaftlich erfolgversprechenden Standorte für öffentliche Apotheken in den Städten und größeren Gemeinden sind inzwischen besetzt. Apotheker stehen vor einer ähnlichen Pensionswelle wie Ärztinnen und Ärzte und suchen Nachfolger. „Die geforderten Ablösesummen können sich junge niederlassungswillige Apotheker vielfach nicht leisten. Jeder neue potenzielle Standort ist rechtlich heiß umkämpft, denn bestehende Apotheken dürfen nicht unter ein Versorgungspotenzial von 5.500 Bewohner fallen. Das bedeutet auch hohe Anwaltskosten", erklärt Hutgrabner. „Wollen sich angestellte Apotheker selbstständig machen, sind sie praktisch gezwungen, in kleinere Gemeinden auszuweichen."

Dort lohne sich allerdings der Betrieb einer öffentlichen Apotheke wirtschaftlich nur dann, wenn der Umsatz zumindest einer, besser von zwei Hausapotheken abgeschöpft werden kann. Und trotzdem könne es für die neuen Apotheken eng werden, sagt Hutgrabner: „Zuletzt beklagte die Apothekerkammer, dass vor allem außerhalb der Ballungszentren der Fortbestand vieler Apotheken gefährdet sei." Schlimmstenfalls gäbe es schlussendlich in so einer Gemeinde weder eine ärztliche Hausapotheke noch einen Arzt noch eine öffentliche Apotheke.

Hoher Bedarf an mehr ärztlichen Hausapotheken

Das Problem sei, dass der Verdrängungswettbewerb zwischen den öffentlichen Apotheken aus gesetzlichen Gründen immer zulasten der ärztlichen Hausapotheken gehe, die zusperren müssen, wenn sich eine öffentliche Apotheke in der Nähe niederlässt. „Doch ärztliche Hausapotheken sind besonders in ländlichen Regionen eine einfache und sehr gut geeignete Lösung für ein zunehmendes Versorgungsproblem. Leider gibt es davon viel zu wenige, wir brauchen unbedingt mehr davon", so Hutgrabner. „Dem kranken Patienten hilft es am besten, wenn er die erforderlichen Medikamente direkt im Anschluss an die ärztliche Behandlung bekommt, und nicht erst viele Kilometer bis zur nächsten Apotheke zurücklegen muss."

Geeignete Maßnahmen gegen das Hausapotheken-Sterben und dessen negative Auswirkungen

Der Trend zum Hausapotheken-Sterben und dessen negative Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung sei äußerst alarmierend und müsse unbedingt gestoppt werden, so ÖÄK-Vizepräsident Steinhart. Dafür empfiehlt er eine Reihe von Maßnahmen:

  • Erstrebenswert im Sinne einer besseren Arzneimittelversorgung sei ein duales System, also ein kundenfreundliches Neben- und Miteinander von öffentlichen Apotheken und ärztlichen Hausapotheken.
  • Das Apothekengesetz müsse völlig überarbeitet und zeitgemäß angepasst und liberalisiert werden.
  • Der strenge Gebietsschutz für öffentliche Apotheken sei ein Anachronismus auf Kosten der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Er gehöre im Sinne eines fairen und versorgungsorientierten Wettbewerbs abgeschafft.
  • Die im Apothekengesetz festgeschriebenen Mindestentfernungen zwischen ärztlichen Hausapotheken und öffentlichen Apotheken, wonach andernfalls Hausapotheken zusperren müssen, seien ersatzlos zu streichen.

„Wir unterstützen im Wesentlichen die Empfehlungen der Bundeswettbewerbsbehörde zu einer Liberalisierung des Medikamentenverkaufs und einer Lösung, die den heutigen Strukturen gerecht wird", so Steinhart. „Maßstab für allfällige Regelungen muss der reale Bedarf der Bevölkerung sein, und nicht das wirtschaftliche Interesse der Apothekenbranche."

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